Rente nach 20 Jahren zu Unrecht aufgehoben

Zweifellos falsch zugesprochene Rentenverfügungen können nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts auch viele Jahre später aufgehoben werden, insbesondere wenn ungenügende Abklärungen gemacht wurden, etwa die Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit oder die Adäquanzprüfung vergessen ging. Die Zürich Versicherung als Unfallversicherer wollte einem heute 60-jährigen Familienvater nach über 20 Jahren die Rente streichen, unter Berufung auf die eigenen angeblich ungenügenden Abklärungen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat dies abgelehnt (vgl. Urteil).

Sachverhalt: Ein 1961 geborener Werber verunfallte 1996, kurz nachdem er sich selbstständig gemacht hatte. Bei einem Hotelaufenthalt rutschte er am Rand eines Swimmingpools aus, machte einen reflexartigen Kopfsprung ins Wasser und schlug mit dem Kopf auf dem Grund auf. Das Becken hatte nur eine Wassertiefe von 130cm. Er erlitt eine Schädelkontusion, eine Hirnerschütterung und eine Distorsion der Halswirbelsäule (sogenanntes Schleudertrauma). Die Zürich Versicherung liess den freiwillig Versicherten neurologisch und neuropsychologisch abklären, was eine weitestgehende Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf als Konzepter und Texter in der Werbebranche ergab. Die Neuropsychologin empfahl eine Umschulung, am ehesten möglich sei eine gestalterische Tätigkeit in einem Pensum von «unter positivsten Bedingungen im Rahmen von 60-80%». Der Versicherte hatte einen Verdienst von CHF 120'000.00 versichert, im Rahmen einer freiwilligen UVG und UVG-Zusatzversicherung. Die Zürich liess ein betriebswirtschaftliches Gutachten erstellen, welches ein Einkommen von über CHF 100'000.00 ergab und geschätzt eine Restarbeitsfähigkeit von 40-50%, wobei dies nicht abschliessend eruiert werden könne. In der Folge wurde vergleichsweise eine Rente der Unfallversicherung von 67% vereinbart, analog zur Invalidenversicherung, die ihm eine ganz IV-Rente zugesprochen hatte, entsprechend der damaligen Rechtslage.

 

Im Juni 2020 zog die Zürich die Rentenverfügung in Wiedererwägung und stellte die Rentenleistungen per Ende August 2020 ein. Sie berief sich darauf, dass die Verfügung zu Unrecht ergangen sei, denn sie habe den Untersuchungsgrundsatz verletzt, der Versicherte sei gutachterlich nie abgeklärt worden, es fehle eine interne versicherungsmedizinische Beurteilung zur Frage der natürlichen Kausalität und zum Erreichen eines Endzustandes, sowie nach der verbleibenden Restarbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit, auch sei der Integritätsschaden medizinisch nicht abgeklärt worden. Es fehle zudem eine Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhanges, die Unfallkausalität sei vergessen worden, sei schlicht kein Thema gewesen.

 

Der von advo5 vertretene Versicherte konnte sich nach über 20 Jahren nicht auf die Akten abstützen, da diese nach 10 Jahren entsorgt wurden. Anhand der Honorarrechnungen konnte er aber glaubhaft machen, dass in den von der Zürich Versicherung vorgelegten Unterlagen eine ganze Reihe von entscheidrelevanten Akten fehlten, insbesondere eine Notiz über die vergleichsweise gefundene Einigung bezüglich der zugesprochenen Rente. Der Versicherte machte weiter geltend, die Adäquanz sei nach damaligen Kriterien zu bejahen gewesen, es sei für beide Parteien sonnenklar gewesen, dass man sich über diesen Punkt nicht lange zu unterhalten brauchte. Er sei im Vertrauen auf den gefundenen Vergleich zu schützen, es gehe nicht an, 24 Jahre nach dem Unfallereignis die Rente mit einem Federstrich aufzuheben, insbesondere nicht gestützt auf eigene angebliche Versäumnisse.

 

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hielt fest, die Leistungsprüfung und allfällige Zusprache im Rahmen des UVG folge einer im Gesetz angelegten, in sich logischen Abfolge, bei der zuerst die Versicherten-Eigenschaft zu prüfen sei. Alsdann stelle sich die Frage, ob es sich beim Ereignis um einen Unfall im Rechtssinn handle, ob ein Gesundheitsschaden in einem natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang mit dem Unfall stehe und ob ein Endzustand erreicht sei. Sodann sei die Frage der Invaliditätsbemessung nach Massgabe des hypothetischen Validen- und Invalideneinkommens zu prüfen, sowie die Frage der Höhe des versicherten Verdienstes. In dieser Abfolge setze die Prüfung einer bestimmten Frage voraus, dass die zuvor zu stellenden Fragen geprüft und bejaht worden seien. Werde eine dieser Fragen verneint, finde die Anspruchsprüfung ein vorzeitiges Ende mit der Verneinung des Anspruches, ohne dass die weiteren Fragen geprüft würden, diese werden hinfällig. 2001 habe die Zürich ein betriebswirtschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem Zweck, die unfallbedingte Erwerbseinbusse und somit das hypothetische Invalideneinkommen des Versicherten bestimmen zu können. Nach einer Besprechung zwischen den Gutachtern und den Parteien sei ein Vergleich über den Invaliditätsgrad von 67% zustande gekommen.

Dieses Vorgehen lasse kaum einen anderen Schluss zu, als dass die Parteien übereinstimmend davon ausgingen, dass die der Invaliditätsbemessung vorgelagerten Fragen – also auch die Adäquanz des Kausalzusammenhangs – bejaht wurden, weil sich andernfalls die Invaliditätsbemessung erübrigt hätte. Dass die Adäquanzprüfung «schlicht kein Thema» gewesen sei, spreche nicht unbedingt dagegen, dass man davon ausgegangen sei, die Adäquanz sei gegeben. Mindestens ebenso wahrscheinlich sei die Interpretation des Versicherten, wonach der Grund für die fehlende Niederschrift wohl sei, dass es für beide Parteien sonnenklar gewesen sei, dass man sich über die Frage der Adäquanz in diesem Fall (damals) nicht zu unterhalten brauchte. Als plausibel und lebensnah wurde die Darstellung des Beschwerdeführers vom Gericht eingestuft, dass im unmittelbaren Umfeld der Besprechung mit den betriebswirtschaftlichen Gutachtern noch weitere Gespräche stattgefunden hätten, deren Inhalt nicht dokumentiert worden sei. Solche Gespräche müssten notgedrungen stattgefunden haben, nachdem man sich an jener Besprechung lediglich provisorisch auf eine vorläufige Restarbeitsfähigkeit von ca. 40-50% geeinigt hatte. Entsprechend könne es mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als erstellt gelten, dass die Eckwerte des Vergleichs nach der Besprechung im Detail besprochen wurden, wie der Versicherte behaupte. Dies werde umso plausibler, als die fehlenden Unterlagen durch die Honorarrechnung belegt seien, an deren Echtheit kaum Zweifel bestünden. Die Zürich Versicherung übersehe, dass sie die Beweislast betreffend die zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung treffe, und es somit nicht am Versicherten liege, den Inhalt der damaligen Besprechungen zu beweisen. Dies umso mehr, als mittlerweile schon fast 20 Jahre vergangen seien und es dem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden könne, den Inhalt der damaligen Gespräche zu reproduzieren. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die entsprechenden Überlegungen gemacht, aber nicht schriftlich festgehalten worden seien. Die Akten der Zürich Versicherung seien nicht zuverlässig und lückenlos dokumentiert, was aber notwendig wäre, um mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachweisen zu können, dass eine Adäquanzprüfung nicht vorgenommen, ja nicht einmal thematisiert worden sei. Die Verfügung sei deshalb nicht zweifellos unrichtig, weshalb eine Wiedererwägung ausscheide. Es könne offen bleiben, ob auch der Schutz des berechtigten Vertrauens in den Bestand des Vergleichs einer Wiedererwägung entgegen stehe. Zwar sei wiedererwägungsweises Rückkommen auch mehr als zehn Jahre nach Erlass einer Verfügung zulässig. Doch im vorliegenden Fall sei eine vergleichsweise ergangene Verfügung zu beurteilen, weshalb der Schutz des berechtigten Vertrauens stärker ausfalle als bei einer im strittigen Verfahren erlassenen Verfügung, was umso mehr gelten müsse, als seither schon fast 20 Jahre vergangen seien.

Hier geht’s zum Urteil.