Einige Krankenkassen hinken den Erkenntnissen der Medizin bei der Beurteilung ihrer Leistungspflicht für Krankheitsbehandlungen hinterher.

Einige Krankenkassen hinken den Erkenntnissen der Medizin bei der Beurteilung ihrer Leistungspflicht für Krankheitsbehandlungen hinterher. Kundenfreundlichkeit wäre gefragt, ist aber nicht immer vorhanden. Dies zeigte sich einmal mehr am Beispiel der SWICA und der Liposuktion bei schmerzhaftem Lipödem.

Welche ärztlichen Leistungen werden von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKPV) vergütet?

In der OKPV gilt für alle ärztlichen Leistungen das Vertrauensprinzip. Man geht also davon aus, dass alle Behandlungen, die Ärzte anwenden, den WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit) tatsächlich entsprechen (Pflichtleistungsvermutung). Das Vertrauensprinzip ermöglicht einen offenen, flexiblen und schnellen Zugang zu medizinischen Behandlungen. Dies trägt dem dynamischen Charakter der Medizin Rechnung.

Ausser für Leistungen bei Mutterschaft, präventivmedizinische Leistungen, zahnärztliche Behandlungen, Arzneimittel, Analysen, sowie Mittel und Gegenstände, existiert daher in diesem Bereich auch keine Liste, in der die kassenpflichtigen Leistungen abschliessend aufgeführt werden. Die Krankenkassen prüfen die WZW-Kriterien jeweils im Einzelfall.

Nun gibt es aber ärztliche Therapien, bei denen eine Kostenvergütung umstritten ist. Die einen Krankenkassen zahlen, die anderen nicht. Das ist für die betroffenen Patientinnen und Patienten sehr unbefriedigend.

Beispiel schmerzhaftes Lipödem: Beim Lipödem besteht eine Ansammlung von Fett, meistens in Extremitäten (z. B. in den Armen oder Oberschenkeln). Das Lipödem verursacht starken Schmerz und weist daher klar Krankheitswert auf und ist unbedingt behandlungsbedürftig.

Längere Zeit war jedoch fraglich, ob eine Liposuktion (Fett absaugen) bei einem schmerzhaften Lipödem eine dauerhafte Beschwerdelinderung herbeiführen könne. Die SWICA machte in einem Fall im Februar 2021 geltend, es gebe keine Studien, mit denen dies belegt worden sei. Aus diesem Grund – fehlende Studien – sei dies keine Pflichtleistung der Krankenkasse. Verneint wurde also das Kriterium der Wirksamkeit.

Andere Krankenkassen als die SWICA sahen dies durchaus anders: Wenn alle sinnvollen konservativen Therapiemöglichkeiten durchgeführt worden waren und nichts genützt hätten, bleibe nichts anderes als die Liposuktion, die man der Patientin anbieten könne, um ihre Krankheit und ihr massives Leiden zu behandeln. Es gebe Evidenz für die Liposuktion, wenn gewisse Bedingungen bei der konkreten Patientin erfüllt seien.

Zu diesem Thema gab es spätestens seit 2019 neuere medizinische Erkenntnisse. Das European Lipoedma-Forum, ein Forum bestehend aus Experten aus sieben Ländern unter der Leitung von Herrn Dr. med. Tobias Bertsch (Földi-Klinik Deutschland), erstellte gestützt auf aktuelle Studien und die gesammelte klinische Erfahrung neue Standards für die Lipödem-Therapie. Es entstand ein Konsensus-Papier, das bereits Anfang 2020 auf Deutsch in der Zeitschrift «Phlebologie» veröffentlicht worden war: International Consensus Document «Lipoedema: a paradigm shift and consensus», erschien auch als Beilage in der November-Ausgabe 2020 des Journal of Wound Care und liegt auch online vor. In diesem Konsensus-Dokument steht, es müsse im Einzelfall differenziert werden. Der Nutzen der Fettabsaugung hänge stark von einer klar definierten Patientenauswahl ab. Nicht jede Patientin mit einem Lipödem würde von einer Fettabsaugung profitieren. Insbesondere sei eine Liposuktion aber indiziert, wenn die mit dem Lipödem verbundenen Schmerzen nach intensiver konservativer Therapie (insbesondere konsequenter Kompressionstherapie) von mindestens 12 Monaten Dauer nicht besser würden.

Die SWICA machte diese Differenzierung nicht, sondern berief sich auf das Urteil des Bundesgerichts 9C_508/2020. Das Bundesgericht, so die SWICA, befasse sich in diesem Urteil ausführlich mit der wissenschaftlichen Evidenz zur Liposuktion. Es (also das Bundesgericht) komme übereinstimmend mit der wissenschaftlichen Studienlage zum Ergebnis, dass auch bei bestehendem Krankheitswert des Lipödems keine ausreichende Evidenz für den Beweis der Wirksamkeit der Liposuktion vorliege.

Das Bundesgericht befasste sich aber keinesfalls mit wissenschaftlicher Evidenz. Es sagte nur, die dortige Krankenkasse (die Atupri) stütze sich auf Dokumente (von 2017), und die dortige Versicherte beschränke sich darauf, lediglich entgegen der Krankenkasse die Wirksamkeit zu behaupten. Das Bundesgericht konnte keine Rechtsverletzung erkennen. Es darf ja auch nur prüfen, ob eine Rechtsverletzung vorliegt oder nicht. Das Bundesgericht analysiert sicher nicht die medizinisch-wissenschaftlichen Studien über die Evidenz einer medizinischen Therapie, und legt schon gar nicht fest, ob eine medizinische Therapie wirksam ist. Zum Glück, denn die Bundesrichterinnen sind ja keine Medizinerinnen.

Sobald bei einer Einzelleistung (z. B. einer ärztlichen Therapie) umstritten ist, ob die OKPV zahlen muss oder nicht, prüft eine Expertenkommission (Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen, ELGK) die strittige Leistung. Sodann macht die ELGK eine Empfehlung für oder gegen eine Vergütung durch die Krankenkasse. Den definitiven Beschluss fällt dann das Eidgenössischen Departement des Innern (EDI). Und dann kommt – wie könnte es im Bereich der OKPV anders sein – doch noch eine Liste zum Zug: Die Beschlüsse des EDI sind in einer Liste in Anhang 1 der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) zusammengefasst.

In diese Liste hat es per 1. Juli 2021 nun auch die Liposuktion zur Behandlung von Schmerzen bei Lipödem geschafft.

Die durch advo5 vertretene Versicherte im genannten SWICA-Fall musste ihre Einsprache jedoch bereits Anfang Juni 2021 einreichen. Die Anwältin und die Versicherte mussten sich das Wissen zur Wirksamkeit der Liposuktion zur Behandlung von Schmerzen beim Lipödem selbst beschaffen und vortragen. Dies war ihnen nur mit einem gewissen Aufwand und dank der Unterstützung eines sehr engagierten Arztes möglich. Und dank der Finanzierung durch eine kundenfreundliche Rechtsschutzversicherung. Die SWICA brachte medizinisch gar nichts vor, sondern berief sich nur auf «das Bundesgericht» und die in diesem Entscheid erwähnten veralteten Dokumente.

Weil die Liposuktion bei schmerzhaftem Lipödem per 1. Juli 2021 in den Anhang 1 der KLV-Leistungsverordnung aufgenommen wurde, hiess die SWICA-Einsprachestelle die Einsprache im Oktober 2021 gut.

Die Versicherte musste viel zu lange unter ihren starken Schmerzen leiden. Und sie erhielt trotz ihres ungewöhnlichen Aufwandes keine Parteientschädigung, damit sie der Rechtsschutzversicherung etwas hätte zurückgeben können (Art 52 Abs. 3 ATSG). «In der Regel» wird im Einspracheverfahren keine Parteientschädigung ausgerichtet, aber in diesem Fall hätte die SWICA ausnahmsweise – wie gut begründet beantragt – eine ebensolche zusprechen können.

Aus gut unterrichteten Quellen verlautet, die SWICA sei seit dem Bundesgerichts-Urteil 9C_508/2020 vom 19. November 2020 bis zur Änderung des KLV-Anhangs per 1. Juli 2021 noch gegen mehrere weitere Versicherte erfolgreich vor Bundesgericht gezogen. Obwohl sie sich auf veraltete Dokumente stützte.

Kundenfreundlichkeit einer Krankenkasse sähe anders aus.

15. Oktober 2021 / Bettina Umhang

Sekretariat advo5