Auch die Invalidenversicherung muss in unklaren Fällen Kosten vorschiessen.

Es gibt Fälle, in denen klar ist, dass ein Versicherter oder eine Versicherte Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung hat, aber noch nicht klar ist, welche Sozialversicherung leisten muss. Art. 70 des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG) regelt in solchen Fällen die Vorleistungspflicht. Eine ebensolche ist in diesem Gesetzesartikel aber nur in umstrittenen Fällen der Kranken-, Arbeitslosen-, und Unfallversicherung, sowie der beruflichen Vorsorge nach BVG, geregelt. In der Aufzählung im Gesetz fehlt die Invalidenversicherung. Hatte dies der Gesetzgeber so gewollt, oder handelt es sich um eine «planwidrige Gesetzeslücke»?

Was gilt in Fällen, in denen eine Leistung sowohl der Unfallversicherung als auch der Invalidenversicherung in Betracht fällt? Muss die Versicherte – unter Umständen sehr hohe – Kosten selbst vorschiessen, bzw. bleibt ihr gar der benötigte elektrische Rollstuhlantrieb und damit ihre Mobilität verwehrt, falls sie diese Kosten nicht aufbringen kann?

Eine 54-jährige Versicherte ist wegen zweier Unfälle zur Fortbewegung auf den Rollstuhl angewiesen. Wegen unfallbedingter Schulterbeschwerden benötigt sie zusätzlich ein elektrisches Zuggerät für den Rollstuhl («Swiss-Trac»). Die Unfallversicherung lehnte die Zahlung ab: Der Zusammenhang der Schulterbeschwerden mit den Unfällen sei fraglich («fragliche Unfallkausalität»); die Krankenkasse sei vorleistungspflichtig. Eine entsprechende Verfügung hat die Unfallversicherung jedoch noch nicht erlassen. Auch die Krankenkasse verneinte ihre Vorleistungspflicht: Das Rollstuhlzuggerät sei keine Leistung der obligatorischen Krankenversicherung. Rollstühle und Elektroantriebe für Rollstühle seien nicht in der Liste für Mittel und Gegenstände (MiGeL), die von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen würden, enthalten.  Die Invalidenversicherung (IV) wiederum machte geltend, sie sei überhaupt nicht vorleistungspflichtig, weil sie in Art. 70 Abs. 2 ATSG nicht erwähnt sei. Die IV müsse erst dann allenfalls leisten, wenn definitiv feststehe, dass die Unfallversicherung nicht leistungspflichtig sei.

Jede für das Hilfsmittel in Frage kommende Sozialversicherung verwies auf die (vorläufige oder definitive) Leistungspflicht einer anderen. Die Versicherte fiel «zwischen Stuhl und Bank» und sollte angeblich die Kosten für das sehr teure Gerät selbst vorschiessen. Genau dies sollte doch eigentlich die Regelung der Vorleistungspflichten in Art. 70 Abs. 2 ATSG vermeiden.

Obwohl es solche Fälle immer wieder gegeben haben dürfte, hatte das Bundesgericht über diese Frage bisher nicht entschieden. Die Lehrmeinungen waren sich nicht einig.

Die Versicherte – weder anwaltlich noch durch eine Behindertenorganisation vertreten! – kämpfte bis vor Bundesgericht und erhielt Recht. «Die Vorleistungspflicht bezweckt, die versicherte Person vor Nachteilen zu bewahren», schreibt das Bundesgericht. Es beleuchtet – in Befolgung eines «pragmatischen Methodenpluralismus», wie es schreibt – mehrere Elemente der Gesetzesauslegung und kommt zum Schluss, «dass der Gesetzgeber an die hier gegebene Situation nicht gedacht hat […]». Demnach bestehe eine durch «Richterrecht» auszufüllende Lücke. Eine Vorleistungspflicht der IV falle nicht von vorneherein ausser Betracht. Die Sache sei an die IV-Stelle zurückzuweisen, welche «unverzüglich» den Eintritt des Versicherungsfalls zu prüfen und zu verfügen habe.

19. Juni 2020 / Bettina Umhang