Unrechtmässige bezogene IV-Renten müssen nicht zurückerstattet werden

Das Bundesgericht hat im Urteil vom 18. Mai 2020 (BGer 9C_625/2019) entschieden, dass ein Versicherter zu Unrecht bezogene Rentenleistungen in der Höhe von CHF 176'442.—nicht mehr zurückerstatten muss. Im Entscheid ging es vor allem um die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Rückforderungsanspruch der IV-Stelle verwirkt.

Bei einem Versicherten, der eine ganze IV-Rente bezog, wurde die Rente revisionsweise aufgehoben. Das Bundesgericht bestätigte die von der IV-Stelle verfügte Rentenaufhebung. Die IV-Stelle teilte allerdings die Rentenaufhebung der für die Auszahlung zuständigen Ausgleichskasse versehentlich nie mit. Erst einige Jahre später wurde der Fehler bemerkt, und vom Versicherten wurden die unrechtmässig bezogenen Renten zurückgefordert.

Grundsätzlich sind unrechtmässig bezogene Sozialversicherungsleistungen zurückzuerstatten (Art. 25 ATSG). Rückforderungsansprüche gelten allerdings nicht unbeschränkt, nach einer gewissen Zeit können sie verwirken. Konkret erlischt der Anspruch auf Rückforderung mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach Entrichtung der einzelnen Leistungen (Art. 25 Abs. 2 ATSG). Die Rechtsprechung präzisiert die Kenntnis des Rückforderungsanspruchs dahingehend, dass die Verwaltung bei Beachtung der gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen. Die Frist wird aber nicht durch das unrichtige Handeln der Amtsstelle ausgelöst, sondern es ist auf denjenigen Zeitpunkt abzustellen, an dem der Fehler hätte erkennt werden müssen.

Im Zusammenhang mit der Zusprechung von Invalidenrenten sind die Aufgaben zwischen IV-Stellen und Ausgleichskassen aufgeteilt. Während die IV-Stellen die versicherungsmässigen Voraussetzungen abklären, die Invalidität bemessen und über die Leistungen verfügen, sind die Ausgleichskassen im Wesentlichen für die Berechnung und Auszahlung der Renten zuständig.

Wie bereits erwähnt, unterliess es die IV-Stelle im vorliegenden Fall, der Ausgleichskasse die Rentenaufhebung mitzuteilen. Dies obwohl sie gemäss einer Weisung des BSV den Entscheid aufgrund des durchgeführten Gerichtsverfahrens hätte mitteilen müssen. Falls die IV-Stelle diese Weisung befolgt hätte, wäre die Ausgleichskasse rechtzeitig auf die zu Unrecht ausbezahlte Invalidenrente aufmerksam geworden und hätte die Rentenzahlung umgehend stoppen können. Das Bundesgericht entschied daher, dass die für die einjährige Verwirkungsfrist vorausgesetzte Kenntnis länger als ein Jahr zurücklag und die Rückforderung der Rentenleistungen verwirkt war.

Dieser Entscheid ist zu begrüssen, denn der Koordinationsbedarf zwischen IV-Stelle und Ausgleichskasse darf nicht zu Lasten des Versicherten gehen. Ausserdem kann der IV-Stelle ohne grossen Aufwand zugemutet werden, dass sie bei der Ausgleichskasse nachfragt, ob die verfügte Renteneinstellung umgesetzt und die Rentenauszahlung gestoppt wurde.

Nathalie Lang