IV muss 100'000 Franken nachzahlen

Es sind zwei Fälle von vielen, die die Zeitung herausgepickt hat und nicht immer haben die Versicherten das «Glück», dass sich die Gerichte – wie hier das Kantonsgericht Luzern – tatsächlich mit ihren Argumenten befassen und nicht einfach den Entscheid der IV durchwinken. Schlecht für die Versicherten, die jahrelang auf das Existenzminimum zurückgeworfen waren und zum Teil Sozialhilfe beziehen mussten.  Schlecht aber auch für die IV selbst, die beide Male Kosten für ein zusätzliches polydisziplinäres Gutachten aufwerfen musste und in einem Fall Zinsen nachzahlen musste, die allein für 3 ½ Jahre Rentenzahlung ausgereicht hätten.

Eines muss zu denken geben: Was, wenn sich die beiden Versicherten nicht vor Gericht gewehrt hätten? Wie viele Betroffene gibt es, die solche Entscheide einfach schlucken und auf die ihnen zustehenden Leistungen verzichten?

 

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Schweiz

IV muss 100000 Franken nachzahlen

Invalidenversicherung Ein Anwalt wirft IV-Ärzten vor, arbeitsunfähige Versicherte «gesundzuschreiben». Zwei Betroffene mussten bis vor Gericht gehen, um eine andere medizinische Beurteilung zu erhalten.

Markus Brotschi

IV-Ärzte geraten immer wieder in die Kritik, weil sie aus Sicht der Behindertenverbände nicht unabhängig entscheiden. «Wir stellen fest, dass viele dieser Ärzte als Teil des IV-Systems mit seinen strengen Vorgaben zuerst einseitige Gutachter beauftragen und anschliessend deren Ergebnisse unkritisch durchwinken», sagt Alex Fischer von Procap, dem grössten Mitgliederverband von und für Menschen mit Behinderungen. Zwei Fälle zeigen, wie die Invalidenversicherung (IV) erst auf gerichtliche Anweisung eine medizinische Neubeurteilung vornahm.

Das IV-Protokoll von Daniela B.* dokumentiert eine lange Leidensgeschichte. Die 40-jährige Angestellte einer chemischen Reinigung meldete sich 2012 bei der IV-Stelle Luzern, weil sie nach mehreren Operationen an der Wirbelsäule unter starken Schmerzen litt. Mehrfach bescheinigten ihr die behandelnden Ärzte eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit. Die Taggeldversicherung stellte Anfang 2013 aufgrund eines medizinischen Gutachtens fest, dass die Frau «kaum im Stande ist, länger als eine Viertelstunde zu sitzen, zu stehen, mit einem Schmerzverhalten, das auf eine ausgeprägte Schmerzintensität hinweist». Zu diesem Zeitpunkt hatte sie zwei Operationen hinter sich: eine Versteifung an zwei Lendenwirbeln und eine Bandscheibenprothese. Weitere Operationen nach Anmeldung bei der IV verschlimmerten die Situation noch.

Kein persönliches Treffen

Das vom Regionalärztlichen Dienst (RAD) der IV bestellte Gutachten kam zwar zum Schluss, dass die Frau nach mehreren Operationen körperliche Schäden davongetragen habe und im angestammten Beruf nicht mehr arbeiten könne. In angepasster Tätigkeit sei jedoch eine 70-prozentige Arbeitsfähigkeit vorhanden. Auf dieses Gutachten stützte sich der RAD während des ganzen Verfahrens und beharrte darauf, dass der Frau bei einer sitzenden Tätigkeit ein Pensum von 70 Prozent zumutbar sei. Eine Rente gibt es erst ab 40 Prozent Arbeitsunfähigkeit.

Luzius Hafen, Anwalt von Daniela B., stört sich vor allem am Vorgehen des RAD-Arztes. Dieser habe sich geweigert, die Patientin persönlich zu sehen. Dabei hielt die Eingliederungsberaterin der IV im Februar 2016 schriftlich fest, dass die Patientin das ganze Gespräch «kauernd auf dem Boden sitzend verbracht und über Schmerzen geklagt» habe. Die Arbeitsvermittlung kam zum Schluss, dass der Zustand «weder ein Aufbautraining noch einen Arbeitsversuch erlaubt», und empfahl dem RAD-Arzt, die Patientin persönlich zu untersuchen.

Doch dieser blieb dabei: «Warum hier die Arbeitsvermittlung eine persönliche Begutachtung empfiehlt, ist für mich nicht nachvollziehbar. (...) Weitere Abklärungen sind nicht angezeigt, da medizinisch keine Fragen offen sind.»

Hafen erwirkte schliesslich mit einer Beschwerde beim Kantonsgericht Luzern eine neue Begutachtung. Aufgrund dieses sprach die IV der Frau im letzten Dezember ab 2013 bis Ende 2015 rückwirkend eine volle Rente zu und ab 2016 eine Viertelsrente, weil sich nach dem letzten Wirbelsäuleneingriff der Gesundheitszustand verbesserte. Die IV muss der Frau nun 100000 Franken nachzahlen für die ihr seit 1. Januar 2013 zustehende IV- und Kinderrente, davon sind 17000 Franken Verzugszinsen.

Auch in einem weiteren Fall gewährte die IV-Stelle Luzern einem Antragsteller erst eine Rente, nachdem dieser durch das Gericht eine externe medizinische Begutachtung erwirkt hatte. PC-Techniker Roger H.* hatte sich Ende 2015 wegen starker, brennender Schmerzen in Händen, Beinen und Füssen bei der IV angemeldet. Die Abklärungen ergaben, dass der damals 40-Jährige an einem genetisch bedingten Mineralstoffmangel leidet, der die Nerven dauerhaft schädigt. Der RAD befand jedoch, dass die Symptome durch den Ersatz der fehlenden Mineralstoffe «vollständig therapiert werden» können und der Mann zu 100 Prozent arbeitsfähig sei.

Das Gutachten, das der Betroffene vor Gericht erstritt, attestierte ihm hingegen ein «konstantes Schmerzleiden». Die stechenden Schmerzen könnten durch einfache Berührung ausgelöst werden. Ob die medizinische Behandlung eine relevante Verbesserung bringe, sei offen. Die IV sprach dem Mann Ende 2018 eine volle IV-Rente zu.

Die beiden RAD-Ärzte hatten sich laut Anwalt Hafen ungenügend mit der mangelnden Wirkung der Therapie auseinandergesetzt. Dies zeige die aus dem IV-Protokoll hervorgehende Feststellung des RAD: «Der therapeutische Ersatz des Kaliums ist seit der Kindheit obligat und damit auch nicht neu.» Dabei übersahen die IV-Ärzte, dass der Betroffene erst mit 40 die konkrete Diagnose erhielt, die eine Behandlung erlaubte. Der Mann hatte bereits irreparable Schäden erlitten.

«Es gibt keine Aufträge»

Der bei Daniela B. zuständige Arzt falle immer wieder dadurch auf, dass er IV-Antragsteller «gesundschreibt», auch wenn Fakten eindeutig für eine Rente sprächen, sagt Hafen. Er will aber nicht alle RAD in den gleichen Topf werfen. Es gebe einzelne Kantone wie Luzern, in denen die Praxis besonders restriktiv sei und die die Zahl der Neurenten möglichst tief halten wollten.

Die IV-Stelle Luzern weist die Vorwürfe Hafens entschieden zurück. «Es gibt keine Aufträge an RAD-Ärzte zur Gesundschreibung von arbeitsunfähigen Versicherten.» Der RAD sei nicht für die Rentenentscheide zuständig und bei der medizinischen Beurteilung unabhängig. Der RAD-Arzt von Daniela B. habe «gesetzlich korrekt und unabhängig gehandelt». Da bereits eine polydisziplinäre Begutachtung vorgelegen habe, sei es nicht sinnvoll gewesen, die versicherte Person noch zu einer persönlichen Untersuchung einzuladen.

Die IV Luzern bedauert jedoch, dass sich das Verfahren über sechs Jahre hingezogen hat: «Das ist nicht unser Standard.» Beim Fall von Roger H. verweist die IV darauf, dass es sich um eine sehr seltene Krankheit mit einer seltenen Komplikation handle. Sie räumt aber ein, dass «die seinerzeitige Einschätzung des RAD nicht in allen Punkten zutreffend war».

* Namen von der Redaktion geändert

Der Vorwurf wiegt schwer: Gibt es in der Schweiz tatsächlich Ärzte, die ihre Patienten vorsätzlich falsch beurteilen? Foto: Alamy Stock Photo

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